Xplore Wien 2012 - xplore07-Über die xplore 2007 von Irmela Kästner

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Xplore Wien 2012

Chastity - Live in Concert

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xplore07-Über die xplore 2007 von Irmela Kästner


Erotische Praxis und tödliches Horrorszenario? Eine heftige Diskussion entbrennt sogleich am Kaffeetresen des Veranstaltungsortes schwelle7 als ich erwähne, dass ich mich ausgerechnet für diesen Workshop interessiere.
„Wie kann etwas Schönes, Lebens bejahendes wie die Sexualität mit nazistischen Vernichtungsszenarien in Verbindung gebracht werden?“ , macht ein Teilnehmer seiner Empörung Luft. Eine offen praktizierte kontroverse Diskussionskultur, die mir gleich zu Anfang positiv auffällt, ist Teil des Programms. Und das SM-Spiel mit Themen zu kulturellen Traumata, wie Rassismus, Sklaverei, Folter, Genozid, Krieg, ist denn auch unter „Experten“, wie ich später in der angegebenen Literatur nachlese, höchst umstritten.

Peter Banki, der Leiter des Workshops und Doktorand in Philosophie und Literatur an der Universität New York, ist jüdisch. Diese Möglichkeit hatte ich, ehrlich gesagt, nicht Erwägung gezogen. Die Diskutanten am Kaffeetresen auch nicht. Eine neue Perspektive tut sich auf und gleichzeitig erschrecke ich darüber, wie eng und eingleisig sich der Blickwinkel auf Schuld und Macht, Opfer und Täter in Bezug auf den Holocaust in unser kulturelles Gedächtnis eingeschrieben hat und automatisch Reaktionsmuster auslöst. Banki selbst findet einen bemerkenswerten Zugang, sich seinem Thema zu nähern. Er führt seinen Workshop gleich zweimal durch. Zuerst in deutsch, der Sprache des Terrors, der Sprache der Verlierer. Dann in englisch, der Sprache der Sieger und Erlöser, Sprache der Globalisierung, die sich mittlerweile gegen alle Sprachen in der Welt durchgesetzt hat. An den Beginn des Workshops stellt Banki persönliche, sexuelle Erfahrungen, in deren Zuge Gedanken an das Thema Holocaust aufflackerten. Eher fragend als wissend, keineswegs verallgemeinernd. Eine vorsichtige Verbalisierung von etwas gemeinhin Unaussprechlichem. Für Banki bedeutet es, mehr noch als ein „Verstehen und das Bemühen um Verstehen, die Auseinandersetzung mit Nicht-Verstehen, Unsicherheit und Selbst-Unsicherheit.”

Es ist ein Experiment, im Vertrauen auf die Teilnehmer. Offen erzählt Banki über seine Phantasien, über die Lust am SM-Spiel, die er in sexuellen Begegnungen mit deutschen Frauen verspürte. Und ausagierte. Er als der Unterlegene. Seine Erzählweise lässt den Horizont des Literaten und Philosophen erkennen, eher romantisch als, wie vielleicht vermutet, im Stil De Sade’scher Grausamkeit, und erschöpft sich nicht in Bettkantengeplauder.

Eine unterstützende bis gespannte Aufmerksamkeit herrscht unter den Teilnehmern, die kaum Wortbeiträge beisteuern. Bis eine Teilnehmerin das Thema öffnet und von einer Beziehung zu einem jüdischen Mann erzählt, von ihrem vergeblichen Ringen um Gleichberechtigung als nicht jüdische Frau. Und damit gewinnt der Gegenstand, der nicht allein die Auseinandersetzung in diesem Seminar sondern innerhalb des gesamten Symposiums bestimmt, deutliche Kontur: Es geht um die Strukturen von Macht, um deren Kommunikation und Transformation. Im „Spiel „ wie im Leben.

In der anschließenden Partner-Improvisation entlädt sich die Spannung, tritt das emotional dynamische Potential, das die verbale Erörterung der Thematik angestoßen hat, an die Oberfläche. Spielerisch begeben wir uns in ein physisches Szenario von Dominanz und Unterwerfung, ohne konkrete Bilder oder Themen zu benennen. Der Energielevel ist hoch, kraftvoll, sehr direkt, roh und manchmal ruppig entwickeln sich die Begegnungen. Ich bin erstaunt und anfangs irritiert darüber, wie viel Kraft, Energie, Lust und Sicherheit ich aus der selbst gewählten „Opfer“-Rolle schöpfe. Im Anschluss führe ich ein interessantes Gespräch mit meinem Partner über unerwünschte Befreiungsaktionen, nachdem ein selbst ernanntes „Rollkommando“ versucht hatte, die jeweils Unterlegenen in den Spiel-Interaktionen ihren Partnern zu entreißen. Die Holocaust-Thematik in dieses öffentliche Spiel zu bringen, war für alle Teilnehmer ein zu großes Tabu, das Trauma der eigenen Geschichte ein zu großer Horror. Gerade deshalb ein Dank an Peter Banki für seinen Mut, nicht die Schranken des Horrors einzureißen, sondern behutsam den Blick dahinter auf unsere Schatten zu werfen.



Midori, Amerikanerin japanischer Abstammung, Autorin von u.a. The Seductive Art of Japanese Bondage, könnte man als eine feministische Aktivistin in Sachen kreativer sexueller Selbstentfaltung bezeichnen, die sich mit Humor und Leichtigkeit, unkonventionell und experimentierfreudig der Vermittlung ihrer Themen verschrieben hat. Japanese Bondage ist eines ihrer Spezialgebiete, das in der live Performance, anders als auf den weitläufig bekannten, eher pornografisch angelegten Kunstfotos, sich zu einem aktiven Geben und Nehmen entfaltet. Eine Transformation von Energie, in der sich der Widerspruch von Fesseln und Freiheit aufhebt, Schönheit, Kraft und Hingabe sich vereinen. Der Begriff Grazie, den Felix Ruckert in seinem Workshop zum Thema macht, findet in einer Performance, wie der oben beschriebenen, die wohl anschaulichste Form von ästhetischem Genuss und Ausdruck.

Was hat demnach Grazie mit Unterwerfung zu tun? Und wie hängen die Tanzkunst und der Missbrauch von Macht zusammen? „Ein Tänzer lernt seinen Körper zu missbrauchen. Und ich werde euch heute missbrauchen!“, konstatiert Felix Ruckert, selbst Tänzer und Choreograf, eingangs zu seinem Workshop BDSM als Inszenierung in Bezug auf die zweite Frage. Am Ende des Lernprozesses steht dann die Grazie? Ganz so eingleisig funktioniert es wohl nicht. Ruckert arbeitet mit dem Bewusstsein um ein komplexes Geflecht von Konflikten - im Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Tänzer und Choreograf – zwischen ausgeübter Kontrolle, selbst auferlegter Disziplin und angestrebter Perfektion.

Und dabei hat er nicht allein die alt hergebrachte „feudalistische“ Ordnung des Klassischen Balletts, sondern ebenso die sich als „demokratisch“ verstehenden neuen Tanzformen im Visier, die von sich behaupten, hierarchische Strukturen längst abgestreift zu haben. Zumindest ist das ein weit verbreiteter Glaube. Felix Ruckert teilt ihn nicht. Wahrscheinlich weil er Mechanismen von Machtausübung auf verschiedensten Ebenen als menschlich unvermeidbar begreift, die explizite Benennung und offen ausagierte Bearbeitung für essenziell hält. Psychologisch, physisch, intellektuell, spirituell. Alles andere wäre Verschleierung und Heuchelei.
Autoritär beginnt er seinen Unterricht. Aufstellen in Reih und Glied. Wer nicht spurt, wird verbal attackiert und lächerlich gemacht. Schikane, empört man sich innerlich sogleich, und spürt auch die Ironie. Unliebsame Erinnerungen werden wach. Und obwohl klar ist: Es ist alles nur „Spiel“, regt sich unmittelbarer Widerstand. So ist es nur konsequent, dass Ruckert am Ende seine dämonisch schwarzes bodenlanges Lackgewand auszieht, sich nackt und hilflos wie ein Baby auf den Rücken legt und die Seminarteilnehmer auffordert: „ Jetzt dürft ihr euren Lehrer mal so richtig fertig machen.“ Sogleich tritt eine Frau auf ihn ein. Andere setzen mit gezielten Angriffen und Beschimpfungen nach. Ruckert winselt und windet sich wie ein Wurm. Ein kurzes Gewitter entlädt sich. Dann gibt der Meister, der auch am Boden weiterhin die Oberhand behält, Zeichen zum Aufhören und feuert seine Schüler wiederholt zum Klatschen an. Applaus.

Später erklärt mir Ruckert, welche Strategie er mit seiner Methode der Provokation verfolgt. „Wenn ich mit Autorität und Strenge Haltungen von Widerstand erzeuge, schärfe ich bei den Teilnehmern das Bewusstsein dafür, wie weit sie wirklich gehen wollen. Ich verführe sie nicht zu etwas, das sie eigentlich nicht möchten, zu dem sie nicht bereit sind.“ Die freie Wahl ist das Ziel. Alles ist eine Sache von Verhandlung. Das Reden über Sexualität gehört dazu. Soviel zum Thema Missbrauch.

Die Praxis in Dominanz und Unterwerfung lässt Ruckert in klar strukturierten Übungen erproben vor. Sensible Architekturen entstehen zwischen zwei Partnern. Schmerz, Druck, Widerstand verwandeln sich in einen gemeinsamen Strom von Energie. Tänzern sind diese Art von Übungen nicht fremd, Sinneswahrnehmung und das Bewusstsein für den Fluss von Energien sind die Basis für eine Vielzahl an Techniken im zeitgenössischen Tanz. Doch verfolgt das Spiel mit extremer Sinnesreizung ein deutlicheres Ziel: die explizite Konfrontation mit Struktur und Funktion, und letztlich auch mit einer Ästhetik, von Macht.
Kontrolliert über die eigenen Grenzen hinaus wachsen, um letztlich zu größerer Ehrlichkeit und Wahrheit im Tanz, in der Performance zu gelangen. Auf dem Grat der Grenzüberschreitung, am Rand der Gefahr. Und Felix Ruckert sucht die Gefahr. Und ehrlich gesagt: Ist es nicht genau das, was wir in der Kunst heute oft so vermissen?
Der Umgang mit Macht und Unterwerfung wird bei ihm zum zentralen Thema einer künstlerischen Auseinandersetzung, die zwischen Widerstand und Hingabe, Schmerz und Lust, in der Begegnung mit sich selbst und mit dem Publikum sich stets neu artikuliert.
Auch ihm hat man bereits den Tabubruch vorgeworfen. Dabei kann man gerade ein Stück wie „Messiah Game“, dem dieser Vorwurf galt, als ein Schlüsselwerk im zeitgenössischen Tanz ansehen, thematisiert es doch einen Körper, der Schmerz, Opfer, Hingabe und Erlösung in sich vereint. Erlösung erfährt durch den Schmerz. Und damit auch Lust und Ekstase. Konsequent und folgerichtig zeigt es die Transformation jenes geopferten Körpers unserer abendländischen Kultur auf, dessen Ikonographie wir tausendfach verinnerlicht haben, in Bildern, die im Moment eines gewaltvollen Todes irdische Schönheit, und damit auch Begehren und Lust, festhalten.
Dennoch: Die These aufzustellen, Jesus Christus sei der erste bekennende Sadomasochist unserer Zeitrechnung gewesen, brachte unweigerlich den Skandal und einige Aufführungsverbote.
Asiatische Kulturen begreifen den Körper als Spiegelbild eines nach Harmonie strebenden Kosmos. Im abendländischen Kulturraum beschreibt man ihn gern als eine Bühne für ein mysteriöses und höchst grausames Theater. The quality of „humanity“, incidentally, has nothing to do with happiness; we are, here, very far from any idea of charity: the most horrifying experiences and the cruelest of pleasures are intirely valuable if they contribute to the development of a real understanding of what it is to be human. Only a puritan would disagree, seeing in the body only gross matter and a despicable magma of viscera, rather than a mysterious theater which provides a stage for all exchange – wheter of matter, mind or the senses – between inner and outer worlds. (Michel Leiris in „Fragments for a History of the Human Body, Part Three )

Das Tal der Tränen muss also immer wieder durchquert werden, die Selbsterkenntnis ist ohne Schmerzen nicht zu haben. Nur wird der ausgetretene Pfad irgendwann zur Sackgasse. Neue Wege gilt es zu entdecken, die der eigenen Psyche, dem Empfinden, dem Handeln bislang verschlossen waren.
Lust – Schmerz – Trauma: Zwischen den Koordinaten dieses Dreiecks bewegt sich eine Vielzahl der insgesamt 42, teils aufeinander aufbauenden Workshops in den drei Tagen von xplore. Das Thema Missbrauch scheint wie ein roter Faden immer wieder auf. Als Antwort auf Angst und Hemmung treten Transformation, Bewegung und schließlich Heilung in den Mittelpunkt. Mit Elementen aus Kunst und Performance, Berührung und Bewegung, Coaching und Therapie, Tantra, Yoga, Rollenspiel und Psychodrama begibt sich jeder der Workshopleiter vor einem vielfältigen Erfahrungshintergrund auf seinen ganz eigenen kreativen Weg. BDSM erschöpft sich bei ihnen nicht im kurzzeitigen Exzess privater Obsessionen sondern knüpft Verbindungen zwischen Eros und Sexualität zu gesellschaftlichen Prozessen und tief greifenden kulturellen Fragestellungen.
Wahrnehmung – Kommunikation – Analyse: Die Tänzerin Lara Martelli setzt in ihrem Workshop Pain Processing bei der Anatomie des Schmerzes an. Beißen, kratzen, schlagen – wie fühlt es sich an Schmerz zu empfangen und zuzufügen? Ein bewusstes Geben und Nehmen. Geheimdienst/monablue lädt ein die Kunst der Unterwerfung zu erkunden – mit dem Blick, mit dem Körper, mit Worten. Boris Jarosch zieht sein Wissen um die Kunst der Dominanz aus der Politik und bestimmt aus einem persönlich gewählten biografischen, einem historischen und einem mythischen Vorbild den jeweiligen Herrschaftstypus. Über allem steht ein Bedürfnis: Richtig guter Sex. Und selbst wenn es vordergründig nach einem Versprechen klingt, wie es uns heute von jeder Werbefläche herab bis zum Überdruss anlächelt, uns übersättigt und immer noch unbefriedigt zurück lässt: Sexualität ist die Quelle unserer Lebensenergie.
Die Grenzen zwischen „normal“ und „ extrem“ gestalten sich bei xplore offen, die Übergänge sind fließend.
Jenseits der Dark-Rooms bereitete die SM-Kultur seit jeher einer Kunstavantgarde eine Spielfläche, weniger zur reinen Triebabfuhr als zur Reflexion. Im Zuge von Fetisch-Parties und Erotik-Messen hat mittlerweile auch SM Einzug in den Mainstream gehalten. Die Popkultur dekoriert sich mit zunehmendem Eifer mit den Insignien extremer Sexualpraktiken. Schwul, lesbisch, hetero – die sexuelle Orientierung kennt kein Tabu mehr. Dabei hat es den Anschein: je salonfähiger, umso klischeehafter. Effektvoll inszeniert sich heute ein selbst ernannter „Underground“ mediengerecht schrill und erschreckend banal an der Oberfläche.

Wir meinen, alles zu wissen, alles gesehen zu haben. Auch Felix Ruckert spricht von SM als Inszenierung, auch er liebt die Maskerade. Doch geht es ihm um Erkenntnis, von uns selbst und unserem Verlangen, unserer Kultur, durch die tieferen Schichten unseres Körpers und unserer Sinne hindurch. Für Felix Ruckert verbindet sich damit ein Schritt in Richtung gesellschaftlicher Utopie. Seine Forschungen an den Schnittstellen von Kunst, Sexualität, Wissenschaft und Gesellschaft zeigen bei aller Radikalität eine extreme Offenheit und Flexibilität im Denken und Handeln. Das Symposium xplore ist das Herzstück seiner Kunst, seiner Arbeit, seines gesellschaftlichen Engagements. Am Anfang steht das (kontrollierte) Experiment. Offen für jeden. Die sinnliche Erfahrung, die mit den weitest möglichen der Möglichkeiten nach Ausdruck strebt. Nach wahrhaftigem Erleben womöglich. Womit wir bei der Grazie angekommen sind. Oder der Kunst der Lust.

Aus dem Besuch wurde dann doch eine Teilnahme. Das macht das Schreiben darüber nicht einfacher. Dies ist nun ein Bericht aus der Perspektive einer unerfahrenen „Spielerin“, ehemaligen Tänzerin und heutigen Tanzjournalistin, die die Aufforderung xplore dringend an alle lustvoll kreativen und kulturell engagierten Menschen weitergeben möchte.

Irmela Kästner